Die großen Schlachter verwandeln geruchsauffälliges Fleisch in einem ausgeklügelten System in genussfähige Ware
Dass Schweine stinken, zählt zum vermeintlichen Alltagswissen. Doch wie so oft bei derartigen Weisheiten, relativiert die Wissenschaft das Klischee: Erstens entwickeln eher männliche als weibliche Tiere unangenehme Gerüche; und zweitens zeigen Untersuchungen, dass lediglich 40 bis 60 Prozent der Eber einen hohen Wert der Komponente Androstenon (als „urinartig, schweißig und blumig“ beschrieben) und nur zehn Prozent hohe Skatolwerte („fäkalartig“) besitzen.
Dennoch: Sicher ist sicher, lautete Jahrzehnte hindurch das Motto in der Nutzviehwirtschaft. Damit der Konsument kein stinkendes Fleisch auf den Teller bekam, wurden männliche Ferkel, wie es das Gesetz erlaubte, bis zum siebten Lebenstag ohne Betäubung kastriert. Doch mit dieser Selbstverständlichkeit ist nach jahrelangen Kampagnen der Tierschützer Schluss. Ab 2018 soll die betäubungslose Ferkelkastration gänzlich verboten sein. Schon heute erhalten die Tiere vielerorts Anästhetika und Analgetika. Die Großen der Branche aber, die in Nordrhein-Westfalen beheimateten Schlachter Tönnies, Vion und Westfleisch, spielen Avantgarde. Sie beziehen mehr und mehr unkastrierte Eber.
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Niemals gerate dabei Stinkefleisch in den Handel, beteuert Wilhelm Jäger von Tönnies in Rheda-Wiedenbrück. Sein Unternehmen, das 27 000 Eber pro Woche verarbeite, beschäftige neuerdings Geruchskontrolleure, die an den Haken stehen, schnuppern und aussortieren. Den Tauglichkeitsstempel geben zwar, wie vorgeschrieben, Amtsveterinäre, aber Jäger weiß: Weniger als drei Prozent der Tiere sind olfaktorisch so auffallend, dass sie „vernichtet“ werden und „in die Tierkörperverwertung“ kommen.
Zwischen tauglich und untauglich existiert bei Tönnies aber noch eine dritte Kategorie. Laut Jäger fallen in diese „drei bis fünf Prozent“ des Fleisches. An ihr entzündet sich branchenintern Kritik, die hauptsächlich die mittelständische Konkurrenz unterfüttert, die sich ein so ausgeklügeltes System nicht leisten kann oder will. Diese Kategorie weist Geschlechtsgeruch auf, wenn auch „nicht ausgeprägten“, so Jäger gegenüber FOCUS. „Diese Ware sondern wir ab und nehmen sie in Produkte, die gepökelt, gesalzen oder sonstwie behandelt werden.“
Diese maskierte „Verarbeitungsware“, wie sie im Jargon heißt, ist nicht gesundheitsschädlich. Und es gilt wohl auch, was die mit dem Thema befasste FDP-Bundestagsabgeordnete Christel Happach-Kasan sagt: „Wie will man einen Missstand erkunden, den man nicht bemerkt?“ In jener EU-Verordnung aber, die seit 2005 deutsches Recht ist, steht nichts von einer dritten Kategorie. Fleisch ist genusstauglich oder nicht. Zu den Kriterien zählt „ausgeprägter Geschlechtsgeruch“.
Weil dieser aber eine Frage der Interpretation ist, wird wieder die Wissenschaft bemüht. In einer von der Fleischwirtschaft geförderten Studie steht, „nur etwa die Hälfte der Konsumenten“ sei „sensitiv gegenüber Androstenon“ in relevanter Menge. Jäger ergänzt, dass unkastrierte Eber immer früher geschlachtet werden und deshalb weniger stinken. Außerdem sei ihr Fleisch einfach besser.
Eine andere Lösung wäre der Impfstoff Improvac, eine Art chemische Kastration, zugelassen und etwa in Australien in Verwendung. Ihn aber lehnt die Branche ab. Er sei neunmal teurer als Geruchskontrolle – und berge die Gefahr, dass geimpftes Fleisch als „Hormonfleisch“ verunglimpft werde.